Volkstrauertag 2011

Volkstrauertag in Reutti

Wie jedes Jahr besuchten auch heuer einige Mitglieder des örtlichen NPD-Kreisverbandes die Gedenkveranstaltung des Landkreises für die Opfer der Kriege am Soldatenfriedhof in Reutti, die am vorigen Sonntag stattfand. Der Ablauf der Veranstaltung war dem der vergangenen Jahre sehr ähnlich. Neben den Fahnenträgern waren es vor allem der Männerchor der „Johannes-Rösle-Gruppe“ und die Schützenkapelle Reutti-Jedelhausen, die der Veranstaltung die ihr gebührende Würde verliehen. Zudem trug der ehemalige Frontsoldat Erwin Kienzler ein Gedicht vor, das vom grausamen Alltag an der Ostfront handelte.

Die meiste Zeit wurde von der Rede des Landrats Erich Josef Geßner eingenommen. Wir könnten hier direkt auf die Berichte aus den Vorjahren verweisen, ganz nach dem Motto: „The same procedure as every year“. Einzelne Aspekte aus Geßners Rede sollen jedoch an dieser Stelle genauer diskutiert werden – auch und vor allem im Hinblick auf das selektive Geschichtsbild unserer Tage, das den Zweiten Weltkrieg als alleiniges Werk Adolf Hitlers gedeutet sehen will und den Beitrag, den die anderen Darsteller auf der europäischen Bühne leisteten, konsequent ignoriert.

Geßner widmete sich unter anderem der Frage, wann ein Krieg denn gerecht sei und sprach von dem Dilemma, daß es zur Verhinderung von Gräueln und Verbrechen gegen die Menschlichkeit manchmal unumgänglich sei, daß man den Krieg als ultima ratio wählt – freilich im Zusammenhang mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, die er als CSU-Parteibuchträger schon allein aus Loyalität seiner Partei gegenüber gutheißen muß; selbst wenn ihre Sinnlosigkeit und ihr heuchlerischer Charakter noch so deutlich zu Tage treten.

Doch widmen wir uns der Zeit zu, in der das „verbrecherische Nazi-Regime“ seine „friedliebenden Nachbarn überfallen“ hatte. So faßte der Landrat dem Sinn nach die Entstehungsgeschichte des Zweiten Weltkriegs zusammen. Wir nehmen das Resultat der folgenden Analyse vorweg: Während im Fall des Afghanistan-Einsatzes die höchst skurrilen Geschehnisse am 11. September 2001 in Kombination mit dem NATO-Bündnisfall eine moralisch äußerst fragile Rechtfertigung des Kriegseinsatzes lieferten, steckte das Deutsche Reich im Spätsommer 1939 viel stärker in dem Dilemma, daß man manchmal das Mittel des Krieges anwenden muß, um schlimmeren Verbrechen vorzubeugen.

Die Situation vor Kriegsbeginn wurzelte im Unrecht von Versailles, welches die Weimarer Republik von vorneherein zum Scheitern verurteilte. Schon 1919 prophezeiten einige Weitsichtige, daß sich der nächste Krieg an der deutsch-polnischen Grenzfrage entzünden würde. Die Abtretung des mehrheitlich deutsch besiedelten Korridors an Polen und die daraus resultierende Trennung Ostpreußens und Danzigs vom Reich schuf eine untragbare Situation für die Deutschen im Osten. Neben der enormen wirtschaftlichen Schwächung – 1921 verlor das Deutsche Reich zusätzlich das industrielle Herzstück Oberschlesien an Polen, obgleich die vorausgegangene Volksabstimmung ein klares Ja zum Verbleiben bei Deutschland ergeben hatte – war es vor allem die völkerrechtliche Lage der Volksdeutschen auf jetzt polnischem Staatsgrund.

Die Polen traten die Rechte der nationalen Minderheiten auf ihrem Grund und Boden – ob Deutsche, Juden oder Ukrainer – in jeder Hinsicht mit Füßen. Insofern war es nur konsequent, daß die polnische Regierung bereits 1920 das Minderheitenschutzabkommen einseitig aufkündigte (mehr dazu im Artikel „Befreiung oder Niederlage oder was?“ des Bundeswehr-Generals a.D. Gerd Schulze-Rhonhof). Es ist charakteristisch für die polnische Expansionswut in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, daß von den 30 Millionen Einwohnern des Staates Polen nach dem Ersten Weltkrieg nur 19 Millionen Polen waren.

Um sich ein Ausmaß der Diskriminierung der seit Jahrhunderten angestammten deutschen Bevölkerung durch die polnische Obrigkeit machen zu können, sei der Historiker Michael Hartenstein zitiert: „Durch politische und administrative Maßnahmen wurden Deutsche zum Verlassen des Landes gedrängt, bei den Bodenreformen von 1919 und 1925 wurde Grundeigentum Deutscher weit überproportional herangezogen. Vom polnischen Außenministerium wurden all diese Maßnahmen als ,Entgermanisierung’ bezeichnet. Von den etwa 1,1 Millionen Deutschen, die durch die Grenzveränderung nach dem ersten Weltkrieg unter polnische Herrschaft kamen, verließen bis 1939 rund 750.000 ihre Heimat.“ (M. Hartenstein, „Die Geschichte der Oder-Neiße-Linie“, S. 37)

Diese nüchternen Zahlen vermitteln jedoch noch keine Vorstellung von der Grausamkeit des polnischen Chauvinismus, dem die Volksdeutschen ausgesetzt waren. Schon seit 1919 kam es zu Überfällen auf deutsche Bauernhöfe; von einer rechtlichen Gleichstellung im öffentlichen Leben konnte gar nicht die Rede sein. Tausendfach wurden Deutsche in die Internierungslager Szezypiorno und Stralkowo gesteckt.

In den 30er Jahren und insbesondere ab März 1939, nach der englischen Garantieerklärung für Polen und der Teilmobilmachung der polnischen Truppen, überstieg der Terror jede menschliche Vorstellungskraft. Insbesondere die polnischen Überfälle auf grenznahe Orte auf deutschem Boden nahmen überhand. Zwei Zeugen von Tausenden sollen hier stellvertretend zu Wort kommen. Zunächst Bringfriede Jung aus Heidelberg, deren Leserbrief am 22. September 1989 in der Frankfurter Allgemeinen erschien und der in dem Buch „Die falsche Rolle mit Deutschland“ von Josef A. Kofler abgedruckt ist:

„Im August 1939 flohen tausende über die Grenze. In den Auffanglagern wurden mehr als 12.000 Deutsche registriert. Ich hielt mich damals in Elbing auf und habe diese armen, ausgeplünderten und zum Teil zerschlagenen Deutschen betreut. Alle großen Räumlichkeiten Elbings, wie Turnhallen und Gasthaussäle, waren belegt. Das Krankenhaus vor allem mit alten, kranken und zusammengeschlagenen Menschen überfüllt. Später kamen dann die Deutschen, die von der Wehrmacht aus dem berüchtigten Gefängnis ,Bereza Kartuschka’ befreit worden waren. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen Polens und waren, während die Verhandlungen um einen Auto- beziehungsweise Eisenbahndurchgang durch den Korridor noch liefen, in Gewaltmärschen, in dieses, im Norden Polens gelegene Gefängnis getrieben worden. In dieser Situation bemerkten wir in Ostpreußen den Rückzug der Wehrmacht am 29. August. Wir bekamen es mit der Angst zu tun; denn der – völlig unbegründete – Gebietsanspruch Polens auf Ostpreußen war uns nur zu bekannt.“

Im selben Buch findet sich auch der Leserbrief von O. Meyer aus Betzenstein, abgedruckt am 22.12.1989 im „Deutschen Anzeiger“:

„Im August 1939 wurde ich zur landwirtschaftlichen Betriebsprüfung in der Nähe von Baldenburg, also 15 km diesseits der damaligen polnischen Grenze abkommandiert und hatte mein Quartier in einem Gasthaus. Am 28. August 1939 weckte mich der Gastwirt um 4 Uhr morgens: ,Herr Meyer, stehen Sie auf, Polen haben das Dorf angezündet, es brennt an mehreren Stellen.’ Ich hatte mich kaum angezogen, da betraten zwei bewaffnete Polen mein Zimmer und gaben mir Befehl, ins oder unters Bett zu kriechen. Weil es ihnen nicht schnell genug ging, gab es Schläge mit der Stahlrute. Ich blutete, der Gastwirt ebenfalls. Dann ließen sie von uns ab und gingen ins nächste Gehöft. Ich nahm meine Akten, lief sieben Kilometer blutgetränkt zur Bahn, fuhr nach Berlin und meldete den Vorfall.“

Wir könnten Dutzende weitere Augenzeugenberichte wiedergeben. Dies alles geschah, bevor die Wehrmacht am 1. September 1939 den Krieg gegen Polen eröffnete. Der polnische Terror erreichte jedoch erst nach Kriegsausbruch seinen Höhepunkt: Am 3. September, dem „Bromberger Blutsonntag“, wurden tausende deutsche Zivilisten wie Vieh von den Polen abgeschlachtet. Die offiziellen Zahlen sprechen von rund 5400 Toten, andere Schätzungen gehen von 15.000 aus.

Hin und wieder liest man auch in Geschichtsbüchern vom Bromberger Blutsonntag – allerdings nicht, um das Leid der deutschen Zivilbevölkerung zu schildern, sondern, um das NS-Regime zu schelten. Denn das deutsche Propagandaministerium sprach von mehr als 50.000 Opfern. Diese Übertreibung der Opferzahl scheint den Historikern wohl ein bedeutenderes Ereignis zu sein als der systematische Massenmord!

Die 20 Jahre währende Vorgeschichte des Kriegsbeginns werden jedoch unter den Teppich gekehrt. Die junge Generation soll vom Leiden der deutschen Zivilbevölkerung nichts wissen; von den Bemühungen der Reichsregierung, das Korridorproblem diplomatisch zu lösen schon gar nicht. Der unangenehme Teil der Zeitgeschichte wird weggelassen; das wissen diejenigen, die sich mit kritischen Werken zur deutschen Geschichte befassen, nur allzu gut – und zwar nicht nur am Beispiel des deutsch-polnischen Konfliktes.

Es geht nicht darum, ein Regime von seiner Schuld freizusprechen, sondern allein darum, der Wahrheit die Ehre zu geben. Es wird so viel vom Frieden gesprochen, aber wie soll der Friede gedeihen, wenn Lüge und Unrecht weiter fortbestehen? Der Zweite Weltkrieg und seine zwanzigjährige Vorgeschichte sollten uns lehren, daß das Miteinander der Völker nur funktioniert, wenn man erstens die volle geschichtliche Wahrheit beim Namen nennt und zweitens die Welt nicht in Sieger und Besiegte unterteilt. Diese Versöhnung auf Augenhöhe wurde von den Frontsoldaten des Krieges meisterhaft vorgelebt; wer daran zweifelt, dem sei das Buch „Supersoldiers“ von Hajo Hermann ans Herz gelegt. Die Politik und die Geschichtsschreibung verstreuen mit ihrer selektiven Wahrnehmung aber nach wie vor die Saat des Unfriedens.
 
 

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